Archiv: Vergangene Aktionen

     
 
24. Mai 2011 Dr. Carolin Butterwegge

Offener Brief an Ministerpräsidentin Hanelore Kraft

Der so genannte Hartz-IV Kompromiss Ende Februar 2011 war ein offener Rechtsbruch auf dem Rücken der Betroffenen. In einer Nacht-und-Nebel Aktion warfen Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen und interessierte Ministerpräsidenten der Länder sämtliche verfassungsrechtliche Bedenken über Bord und halten seitdem den Hartz-IV-Betroffenen ihre verfassungsgemäßen Rechte vor.

Die Fraktion DIE LINKE fordert Ministerpräsidentin Kraft in einem offenen Brief auf, gegen diese Willkür im Namen des Landes NRW zu klagen. Eine Antwort der Landesregierung steht bis heute aus. Wir haben mit einer Kleinen Anfrage (Drucksache 15/2246) nachgehakt.



Der Offene Brief im Wortlaut:


An die
Ministerpräsidentin von NRW Hannelore Kraft
Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen

40190 Düsseldorf


Nachrichtlich an:
Guntram Schneider, Minister für Arbeit, Integration und Soziales NRW
Norbert Römer MdL, Vorsitzender der Fraktion SPD NRW
Reiner Priggen MdL, Vorsitzender der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen NRW

 

Umsetzung der vom Landtag NRW beschlossenen Normenkontrollklage gegen die Regelsatz-berechnung des "Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch"


Düsseldorf, den 24. Mai 2011


Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin Kraft,

der Landtag von Nordrhein-Westfalen hat in seiner Plenarsitzung am 01.12.2010 den Antrag der Fraktion DIE LINKE mit der Drucksachen-Nummer 15/762 mit den Stimmen der Fraktionen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE angenommen. Es handelt sich um einen Änderungsantrag unserer Fraktion zum Antrag der Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Vorgaben des Bundesverfassungs-gerichts umsetzen – Transparenz bei der Berechnung von bedarfsgerechten SGB-II- und SGB-XII-Regelsätzen und Perspektiven für Langzeitarbeitslose und ihre Familien schaffen“.

Mit der Annahme unseres Antrags hat der Landtag die Landesregierung aufgefordert, auf Bundesebene darauf einzuwirken, dass „… für den Fall, dass die Regelsätze wie im Entwurf für ein ‚Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch‘ zum Jahresanfang 2011 in Kraft treten, der Klageweg beschritten wird, weil die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht beachtet worden sind.“

Rund sechs Monate nach diesem Beschluss ist eine derartige Normenkontrollklage nicht in Sicht. Damit bleibt das Problem, dass die Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 09. Februar 2010 für eine neue Ermittlung der Regelsätze gemacht hat, bei der Verabschiedung des sog. Hartz-IV-Kompromisses missachtet wurden, bisher unbearbeitet.

Die CDU/FDP geführte Bundesregierung hat sich mit ihrem Verfahren zur Festlegung der Regelbedarfe gegen alle Kritik von Sachverständigen durchgesetzt. Keiner der verfassungsrechtlichen Einwände gegen die Verfahren, die vor Verabschiedung des Gesetzes unmissverständlich erhoben wurden, ist beachtet worden.

„Der neue Regelsatz ist nicht verfassungskonform.“ Diese Feststellung, die der Paritätische Wohlfahrtsverband in seiner Bewertung des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes vom 11. März 2011  trifft, wird keineswegs nur von der Partei DIE LINKE geteilt. Führende SPD-Politiker wie z.B. Sigmar Gabriel, aber auch unzählige sozialpolitische Expert(inne)n aus Praxis und Wissenschaft teilen diese Auffassung.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil folgende Anforderungen an die Ermittlung von Regelsätzen festgelegt: Transparenz, Nachvollziehbarkeit, Sach- und Realitätsgerechtigkeit, Heranziehung verlässlicher Daten und Verwendung schlüssiger Berechnungsverfahren. Der paritätische Wohlfahrtsverband hat in seiner sehr sorgfältigen zwölfseitigen Bewertung dessen, wie die Bundesregierung tatsächlich vorgegangen ist, die schwerwiegenden Verstöße gegen die Anforderungen des Verfassungsgerichts erläutert.

Diese Verstöße werden hier lediglich in aller Kürze zusammengefasst:

  • Die Referenzgruppe für die Festlegung des Existenzminimums wurde willkürlich geändert. Zur Errechnung des „Regelbedarfs“ von Erwachsenen werden nun nur noch die Ausgaben der ärmsten 15 Prozent von Ein-Personen-Haushalten herangezogen.
  • Eine Verfälschung der Stichprobe durch Zirkelschlüsse wird in Kauf genommen. Die Stichprobe wurde weder um alle Bezieher(inne)n von Mindestsicherungsleistungen noch um Menschen, die in so genannten verdeckter Armut leben, bereinigt.
  • Erwachsenen Leistungsbezieher(inne)n wird soziale Teilhabe noch drastischer als bisher verwehrt, weil selbst von zahlreichen Ausgaben der ärmsten 15 Prozent der Bevölkerung noch zahlreiche willkürliche Abstriche gemacht werden. Insbesondere die Streichung der Ausgaben für Alkohol und Tabak ist nicht nur sachlich, sondern auch methodisch nicht vertretbar. In methodischer Hinsicht hätte diese normativ begründete Entscheidung zumindest dazu führen müssen, nur das Ausgabeverhalten solcher Haushalte heranzuziehen, in denen weder Alkohol noch Tabak konsumiert wird, um feststellen zu können, welche Anteile ihres Budgets diese Haushalte für andere Bedürfnisse verwenden.
  • Die Datengrundlage ist nicht verlässlich. Von statistischer Sicherheit hinsichtlich bestimmter Ausgabenarten darf erst ausgegangen werden, wenn mindestens 100 erfasste Haushalte zu dieser Ausgabenart überhaupt Angaben gemacht haben. Dieses Kriterium ist insbesondere bei sehr vielen Bedarfen von Kindern und Jugendlichen keineswegs erfüllt.
  • Es wurden weiterhin die vom Bundesverfassungsgericht gerügten willkürlichen Schätzungen „ins Blaue hinein“ vorgenommen. Dies gilt zum Beispiel für die neu eingeführte Regelbedarfsstufe 3 für „erwachsene Leistungsberechtigte, die keinen eigenen Haushalt führen“ und für den angenommenen Schulbedarf in Höhe von 100 Euro pro Jahr.

Die Fraktion DIE LINKE ist keineswegs der Auffassung, dass eine Regelsatzermittlung, die den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes entspräche, schon allein genügt um zu einer tatsächlich bedarfsdeckenden Mindestsicherung zu kommen. Hierfür wäre vielmehr der politische Wille erforderlich, Erwerbslose und Erwerbsarme nicht die Folgen einer verfehlten Arbeitsmarktpolitik tragen zu lassen sowie ihre Ausgrenzung vom bzw. massive Benachteiligung am Arbeitsmarkt auch noch zur Rechtfertigung ihrer durch Hartz-IV praktizierten sozialen Ausgrenzung zu nutzen.

Wir halten es jedoch für völlig unerträglich, wenn die ohnehin unzureichende Sicherung erwerbsloser Menschen und ihrer Kinder auch noch unter Missachtung des Bundesverfassungsgerichts weiter ausgehöhlt wird. Deshalb fordern wir die Landesregierung und namentlich Sie, Frau Ministerpräsidentin Kraft auf, den Beschluss des Landtags von Nordrhein-Westfalen vom 01.12.2010 umzusetzen und eine Normenkontroll-klage gegen das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch  einzuleiten. Bitte teilen Sie uns bis zum 07. Juni 2011 mit, welche konkreten Schritte Sie diesbezüglich unternommen haben und bis wann mit einer Einreichung der Normenkontrollklage zu rechnen ist.

Mit freundlichen Grüßen


Bärbel Beuermann MdL

Wolfgang Zimmermann MdL

Dr. Carolin Butterwegge MdL