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9. Januar 2012

Bericht einer Delegation nach Kurdistan zum Massaker in Uludere - „Es muss sich um einen gezielten Angriff gehandelt haben“

Vom 31. Dezember 2011 bis 4. Januar 2012 besuchten Cansu Özdemir (Abgeordnete der Fraktion Die Linke. Hamburg), Hamide Akbayir, Ali Atalan (beide Abgeordnete der Fraktion Die Linke.NRW) und der Schriftsteller Robert Jarowoy (Ratsmitglied Fraktion Die Linke in Hamburg) Kurdistan. Anlass der Reise war die Ermordung von 35 kurdischen Zivilisten am 28. Dezember 2011 durch Luftangriffe des türkischen Militärs in Uludere-Roboskî, an der Grenze zum Irak. [Bildergalerie]

Die kurzfristig anberaumte und nur für eine kurze Aufenthaltsdauer geplante Reise fand in einer hoch angespannten Atmosphäre statt. Der Massaker von Uludere-Roboskî wurde von der türkischen Regierung zunächst ignoriert und dann verteidigt beziehungsweise relativiert. Das führte bei der kurdischen Bevölkerung zu großer Empörung.

Statt nach dem Vorfall auf eine friedliche und deeskalierende Strategie zu setzen, hat die regierende AKP sich öffentlich beim Militär bedankt und die pro-kurdische Partei BDP angegriffen. Der Stabschef des Militärs erklärte, dass die Auslöschung der separatistischen kurdischen Bewegung weiter angestrebt und konsequent durchgeführt werde.

Um die Situation vor Ort im Allgemeinen und die Umstände des Massakers im Besonderen zu erkunden, hat die Delegation während ihres kurzen Aufenthalts Gespräche mit verschiedenen Institutionen wie IHD Diyarbakir, BDP Diyarbakir, BDP Sirnak und der Anwaltskammer Sirnak durchgeführt. Die Delegationsmitglieder kamen einhellig zum Ergebnis, dass die Lage durch die zunehmenden Operationen der türkischen Sicherheitskräfte extrem angespannt ist. Es werden täglich Menschen getötet, gewählte Politiker, dutzende Journalisten, Rechtsanwälte und Wissenschaftler in Haft genommen. In der Region wird dieses Vorgehen als Angriff mit dem Ziel der militärischen und politischen Vernichtung bewertet.

Das Gespräch mit den Verwandten der Opfer

Die Delegation kondolierte den Verwandten der Ermordeten und hörte ihre Berichte an, konnte aber auch mit einem Überlebenden des Bombardements sprechen. Servet Encü, der bei dem Massaker 26 seiner Familienangehörigen verloren hat, berichtete uns:

„Es ist allen bekannt, dass unsere einzige Einkommensquelle der Handel jenseits der Grenze ist. Das ist seit Jahrzehnten üblich. Auch unsere Väter und Großväter taten das und die Regierung wusste Bescheid. Öl, Zigaretten, Tee, Zucker und andere Lebensmittel gehörten zu den Waren. Wir sind auf dem Hinweg schon von Herons (US-Überwachungsflugzeuge) abgelichtet worden. Die wussten ganz genau, dass wir auf dem Rückweg in unser Dorf wollten. Das Militär hat uns die Wege versperrt, so dass wir uns alle an einem Ort versammelt haben, und von der Luft aus wurden wir bombardiert.“

Die Verwandten der anderen Opfer:

„Wir wollen unsere Rechte; wir sind auch ein Volk, wir sind auch Menschen, wir wollen Frieden und Freiheit, wir wollen in Würde leben. Die Welt und Europa dürfen nicht tatenlos zuschauen. Die Türkei wird im Krieg gegen das kurdische Volk von den westlichen Staaten unterstützt. Die Verantwortlichen dieses Massakers müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Wir wollen kein ‚Entschädigungsgeld‘ der Regierung, sondern gerechte Lösungen für unsere Probleme. Die sogenannte ‚Entschädigung‘ betrachten wir als größte Beleidigung unserer getöteten Kinder und Familienangehörigen!“

Fazit:

Jenseits der vielen erschütternden Momente, besonders während der Gespräche mit den Verwandten der Opfer, wurde während dieser Reise abermals deutlich, dass das kurdische Volk in der Türkei nicht nur vernachlässigt wird, sondern diskriminiert, ausgegrenzt und unterdrückt, ja dass es sogar von der Vernichtung bedroht ist.

Die Kurden werden einer systematischen Unterdrückung ausgesetzt, sofern sie für ihre Rechte eintreten und sich für ihre Freiheit engagieren. Der Umgang des Militärs und der staatlichen Behörden in der Region mit den Kurden und die getätigten Aussagen der Verantwortlichen des Staates bezüglich des Konflikts zeugen von einer kolonialistischen Geisteshaltung. Die Kurden sind ein Volk, dessen Sprache und Kultur, dessen bloße Existenz immer noch nicht in der türkischen Verfassung berücksichtigt ist. Es wird Menschen vor Gericht das Recht verwehrt, in ihrer eigenen Muttersprache (Kurdisch) auszusagen.

Als Ergebnis ihrer Untersuchung des Massakers in Uludere-Roboski stellt die Delegation fest, dass es sich um einen gezielten Angriff gehandelt haben muss und nicht um ein „Versehen“. Wir weisen darauf hin, dass der Krieg in Kurdistan mit Unterstützung der Nato geführt wird. Die Türkei wird von der Nato mit modernsten Waffen und Technik versorgt. Interessanterweise erklärte der US-Botschafter in Ankara hinsichtlich des Massakers in Uludere, dass er die Linie der türkischen Regierung im Kampf gegen den Terrorismus voll unterstütze.

Alle fortschrittlichen, demokratischen und humanitären Kräfte sind gefordert, den schmutzigen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung anzuprangern und sich mit dem kurdischen Volk zu solidarisieren.